Autismus
Ergebnisse und Fazit
Ergebnisse
Unter anderem können in den Simulationsstudien von Gustafsson und Paplinski (2004) folgende Ergebnisse erzielt werden:
- Im normalen Lernmodus als auch im Modus mit Aufmerksamkeitsbeeinträchtigung zeigt sich, dass die zwei verschiedenen Reizgruppen hinreichend erfasst werden. In Abbildung 28 ist dies an der Ähnlichkeit der beiden Linienverläufe abzulesen. Diese Linien werden mit Hilfe der vier (2 x 2) Output-Units gebildet, die in Abbildung 28 als "Stern" anhand ihrer beiden zugehörigen Gewichte im zweidimensionalen Raum eingezeichnet sind. Erkennbar ist, dass die zwei Reizgruppen, für deren Einzelreize die Symbole "+" und "Kreis" Verwendung fanden, im ersten und zweiten Modus durch das Kohonennetz "adäquat" repräsentiert werden. Im dritten Lernmodus, bei dem vertraute Reize präferiert werden, zeigt sich hingegen, dass das Netz, dessen vier Units in Abbildung 28 auf einer Linie liegen, nur eine der beiden Reizgruppen erfasst und die andere außer Acht lässt. Genauer gesagt werden die durch das "+"-Symbol dargestellten, insgesamt 40 Reize (2 x 20) sehr gut geclustert, während die "Kreis"-Symbole unberücksichtigt bleiben. Dieses Ergebnis scheint auch nicht zufällig zustande gekommen zu sein, da es in mehreren hundert Simulationen repliziert werden kann. Sofern man einen Bezug der Simulationsergebnisse auf Autisten und Savants wagt, könnte man argumentieren, dass diese ähnlich wie im dritten Lernmodus zwar bestimmte Reizgruppen außer Acht lassen bzw. dort deutliche Defizite aufweisen, jedoch in anderen, eng umgrenzten Teilbereichen eine sehr hohe Differenzierungsfähigkeit, bis hin zu extremen Inselbegabungen besitzen. Die Analysen mit Kohonennetzen legen zudem nahe, dass diese extremen Begabungen mit großen Defiziten in anderen Bereichen einhergehen. Gestützt wird diese Vermutung durch den Befund, dass sich bei Inselbegabten, die beispielsweise im Laufe ihres Lebens soziale Kompetenzen erwerben und ihre dortigen Defizite reduzieren, ihre extreme Begabung abschwächen kann. Bezüglich des zweiten Modus zeigen die Simulationsergebnisse, dass sich Aufmerksamkeitsbeeinträchtigungen im Vergleich zur Bevorzugung bekannter Reize nicht in der genannten Form auswirken. Insgesamt stützen die Befunde die Hypothese, dass autistische Symptome durch starke Präferenz vertrauter Reize hervorgerufen werden.
- Auch wenn das Ergebnis des Erwerbsprozesses im normalen Lernmodus und im Modus mit Aufmerksamkeitsbeeinträchtigung große Ähnlichkeiten aufweist (siehe Abbildung 29), so zeigen sich doch im Lernprozess selbst große Unterschiede. Während im normalen Lernmodus die Gewichte der zugehörigen Output-Units relativ kontinuierlich zu ihren finalen Positionen im zweidimensionalen Raum "wandern", oszillieren die Gewichte des zweiten Lernmodus phasenweise dramatisch, bevor sie sich an ähnlicher Stelle wie im ersten Modus stabilisieren. Abbildung 29 visualisiert neben den Positionen der Inputreize und der vier Output-Units im zweidimensionalen Raum auch den Verlauf einer ausgewählten Output-Unit (genauer gesagt deren Position auf Basis ihrer beiden Gewichte). Deren Startpunkt wird durch eine Raute ("Raute") symbolisiert. Erkennbar sind dabei die deutlich höheren, bisweilen chaotisch wirkenden Schwankungen im Verlauf beim zweiten im Vergleich zum ersten Lernmodus. Haben sich die Positionen der Output-Units jedoch im Modus mit Aufmerksamkeitsbeeinträchtigung stabilisiert, so decken sie die Inputreize häufig sogar geringfügig besser ab als im normalen Lernmodus und können besser zwischen diesen diskriminieren (in der Abbildung nicht zu erkennen). Auch dies lässt sich mit empirischen Befunden zu Autisten in Beziehung setzen. So besitzen diese häufig gute Diskriminationsfähigkeiten, z.B. in Form eines absolutes Gehörs (z.B. Frith, 1989).
Fazit
Die Simulationsstudien von Gustafsson und Paplinski (2004) stellen einen hochinteressanten Ansatz zur Erforschung autistischer Symptome mit Hilfe neuronaler Netze dar. Hervorzuheben sind u.a. die biologische Plausibilität aufgrund des Einsatzes einer nicht überwachten Lernregel (unsupervised learning) und die Übereinstimmung der Simulationsergebnisse mit zahlreichen Befunden zu Autisten und Inselbegabten.
Auch weiterführende Fragen ergeben sich aus den Simulationen. So könnte man versuchen, mit Hilfe von Kohonennetzen die Frage zu klären, unter welchen Umständen extreme Inselbegabungen bei Autisten zustande kommen und wann dies nicht der Fall ist. Möglicherweise könnten auch verschiedene Therapieansätze zur tiefgreifenden Entwicklungsstörung Autismus (Davison et al., 2007) in derartigen Simulationsstudien "überprüft" werden, wenngleich ein in der Simulation erfolgreicher Ansatz nicht zwangsläufig bei den Patienten selbst Symptomlinderung verspricht.
Trotz des Einsatzes von unsupervised learning können hinsichtlich der biologischen Plausibilität auch Bedenken angeführt werden. So handelt es sich bei den verwendeten Inputreizen und dem eingesetzten Kohonennetz um extrem starke Vereinfachungen kognitiver Prozesse im menschlichen Gehirn. Weitere Simulationsstudien, z.B. mit komplexeren Inputreizen wären hier sicherlich von Vorteil, wenngleich dies den derzeitigen Vorteil der guten Visualisierungsmöglichkeiten im zweidimensionalen Raum zunichte machen würde. Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf die Generierung neuer Prognosen auf Basis der Simulationsergebnisse, wobei diese Vorhersagen in neuen empirischen Untersuchungen überprüft werden könnten (siehe z.B. das Anwendungsbeispiel "Routinetätigkeiten"). Derartige Hypothesen werden von den Autoren leider nicht vorgenommen.